Diskussionspapier, später erscheinen als: Wirtschaftsgut oder
kreatives Potential? Vom Preis der Bildung, Ethic Letter (LayReport)
3/1998, S. 1-4
Bildung - ein »freies Gut«?
Der Kern der meisten Probleme liegt in jenen
Fragen, die man nicht stellt. Die bildungspolitische Diskussion dreht
sich scheinbar nur noch um das Problem: Wie soll das Gut Bildung produziert werden?
Wenn man diese Frage so stellt, dann ist die Antwort fast schon
selbstverständlich: Bildung muß einen Preis erhalten. Nur ein Preis
für das Gut Bildung kann dafür sorgen, daß durch den Marktmechanismus
Produktion und Allokation dieses Gutes sinnvoll geregelt werden. Bietet man
Bildung »zum Nulltarif« an, dann wird das Gut Bildung »mißbraucht«, und es
entstehen für die Gesellschaft, den Staat untragbare Kosten - zumal in Zeiten
»knapper Kassen«. Ferner: Warum soll, so war von prominenter Seite in einer
TV-Diskussion zu hören, »Lieschen Müller an der ALDI-Kasse durch ihre Steuern
für die Bildung der Damen und Herren Studenten aufkommen?« Nun, darauf gibt es
zunächst eine einfache Antwort: »Damit die Kinder von Lieschen Müller auch
studieren können.« Wieviel Steuern Lieschen Müller bezahlt, und
wieviel andere nicht bezahlen, das ist keine Frage der
Bildungspolitik, es ist eine Frage der Steuergerechtigkeit. Hier gehen
also viele Fragen durcheinander; eine Klärung und Strukturierung ist
angebracht.
Wenn man Bildung als Wirtschaftsgut
betrachtet, dann ist eine »Marktlösung« ebenso naheliegend wie
scheinbar zwingend. Die Frage lautet aber: Kann man Bildung drauf
reduzieren, bloß kurzfristige Vorleistung für die Wirtschaft zu sein? Ist
Bildung ein bloßes Mittel zu einem fremden Zweck? Ist Bildung bloße Ausbildung?
Bildung ist ein persönlicher Wert für jeden Menschen, ist ein
Freiheitsrecht, besitzt keineswegs nur einen ökonomischen Funktionswert. Die
Kernfrage der Bildungspolitik lautet damit: Wieviel von welcher Bildung wollen
wir?
Wieviel Bildung wollen wir?
Wenn man die Frage so stellt und die
Antwort dem Markt überläßt, dann zeigt sich ein ganz anderes Bild:
Studiengebühren sollen das Gut Bildung »verknappen«. Teure Güter werden weniger
nachgefragt. Wer also Studiengebühren fordert, der fordert damit eigentlich,
einige oder viele an der Möglichkeit zu einer umfassenden Bildung
auszuschließen. Wenn man von der Menge an Bildung spricht, so gibt es
gewiß »Kapazitätsgrenzen«. Ein Land, in dem nur studiert wird, kann
nicht existieren. Es muß hier also eine Entscheidung getroffen werden,
wieviel Bildung wir wollen.
Hinter der Diskussion um Studiengebühren verbirgt
sich also zunächst die Frage: Wieviel Bildung wollen wir?
Meist wird vor dieser Frage sofort das »Wie?« diskutiert. Wenn man für
Studiengebühren plädiert, dann kann man dieses Instrument
»Studiengebühren« auch so gestalten, daß der prinzipielle Zugang zu allen
Bildungseinrichtungen gewahrt bleibt - man kann hier allerlei Modelle kopieren:
Australien, USA, etc., gewiß. Doch die Antwort auf die Frage »Wie?« ist erst
der zweite Schritt. Man kann auch den Hochschulzugang und das Studium an
Leistung knüpfen (numerus clausus, Eingangsprüfungen usw.) und so das
Gut Bildung auf das gewünschte Maß begrenzen. Doch all diese Instrumente setzen
die Antwort auf die Grundfrage voraus: Wieviel Bildung wollen wir?
Dann kann man nach dem Instrument fragen, mit dem ein Bildung nach dem
gesellschaftlich gewünschten Maß erreicht wird.
Welche Art Bildung wollen wir? Oder: Bildung
versus Aus-Bildung
Allerdings sind die Instrumente zur Begrenzung des
Gutes Bildung auf das gesellschaftlich gewünschte und mögliche Maß keineswegs
gleichwertig. Wenn man fragt, wieviel Bildung wollen wir, dann müssen
wir auch fragen: Welche Art Bildung wollen wir? Überläßt man die
Antwort auf diese Frage dem Markt und dem Wettbewerb, so ergibt sich eine
betrübliche Beobachtung: Richten sich Bildungsinhalte nach dem Preis,
so werden entweder Fächer belegt und studiert, die wirtschaftlich nutzbar
sind (die sich gut verkaufen); Bildung wird dann zur bloßen Ausbildung.
Dagegen Bildung als Wert für die Menschen, als kulturelle Errungenschaft, als
Ausdruck menschlicher Freiheit und kreatives Potential - diese Bildung wird
dann nur noch in geringem Umfang oder von jenen erworben, die es sich leisten
können. Wer sein Studium nicht darauf ausrichten muß, später mit der
erworbenen Qualifikation Geld zu verdienen - weil er schon über genügend Geld
verfügt -, der kann sich »Bildung« noch leisten. Die Mehrheit der Studierenden
wird nur mehr ausgebildet.
Naive Bilder der Marktwirtschaft
Nun scheint dies eine rein ethische oder politische
Frage zu sein, nicht eine, die das Funktionieren der Wirtschaft betrifft. Die
Wirtschaft braucht gut und billig ausgebildete Studienabgänger mit den
gewünschten Qualifikationen. »Bildung« ist - so scheint es - nur dann von
Interesse, wenn sie auf dem Markt als Nachfrage auftritt (z. B. beim Kauf
von Büchern oder CDs). Doch in dieser Auffassung verbirgt sich ein großer
Irrtum. Es ist ein Irrtum über das Funktionieren einer Marktwirtschaft. Und
dieser Irrtum wird nicht dadurch besser, daß viele ihn teilen und er ein
ehrwürdiges Alter besitzt.
Marktwirtschaftliche Entwicklung ist nämlich etwas
ganz anderes, als in den Lehrbüchern der traditionellen Ökonomen steht. Da ist
zu lesen, es gehe in der Wirtschaft um die »Allokation knapper Güter«;
Haushalte kaufen gemäß ihrer Präferenzen, Unternehmen produzieren nach Maßgabe
gegebener Produktionsfunktionen, und alles führe, so die herkömmliche Lehre, zu
einem harmonischen Preisgleichgewicht bei vollkommener Konkurrenz. Ein
niedliches Bild. Nur hat dieses Bild mit der wirtschaftlichen Realität nichts
gemein. In einer Marktwirtschaft werden unaufhörlich neue Güter angeboten, die
Präferenzen der Konsumenten werden in vielfältigen Formen des Marketing
überhaupt erst gebildet, Produktionstechniken ändern sich in immer kürzeren
Zeiträumen, und die Märkte zeigen alles, nur kein »Gleichgewicht«, schon gar
keine »vollkommene Konkurrenz«. In der wirklichen Wirtschaft - nicht in den
Lehrbüchern, die von knappen Gütern niedliche Geschichten erzählen - gilt das
von Schumpeter geprägte Schlagwort von der »schöpferischen Zerstörung«.(1) Unaufhörlich
treten Neuerungen auf und verdrängen alte Produkte, Gewohnheiten, Techniken.
Kreativität als Bildungsziel
Was folgt, wenn man seine Nase aus traditionellen
Lehrbücher herausnimmt und einen Blick auf die wirtschaftliche Wirklichkeit
wirft, was folgt daraus für die Bildungspolitik? Die erste Folgerung
ist die: Der wichtigste Wirtschaftsfaktor ist die Kreativität. Eine
bloße Ausbildung produziert vieles, aber keine kreativen Menschen. Man
kann die Inhalte und den Umfang der »produzierten Bildung« sicherlich genau an
die Erfordernisse der momentanen Nachfrage aus der Wirtschaft anpassen
(und viele der Studierenden orientieren sich daran). Doch in fünf oder zehn
Jahren werden diese ausgebildeten Inhalte zu einem großen Teil wertlos
sein. Der Markt »denkt« nur kurzfristig, einfach deshalb, weil ein Markt
überhaupt nicht »denkt«. Er ist ein Instrument der Selektion. Dafür
taugen Märkte, und darin liegt ihre Stärke. Märkte errichten einen sehr
strengen Maßstab - den wirtschaftlichen Erfolg in barer Münze -, sie
selektieren Leistungen nach Kosten und Ertrag. Neuerungen werden nicht vom
Wettbewerb produziert, der Wettbewerb wählt nur aus. Kreativität muß auch und
gerade im gegenwärtigen wirtschaftlichen Umfeld vermehrt zum persönlichen
Erfolgsfaktor (2)
werden. Nur wenn die Bildungspolitik sich auf die Person, nicht die
kurzfristige Funktion in der Wirtschaft konzentriert, wird langfristig
ein kreatives Potential erhalten bleiben.
Wenn man also die Bildungspolitik auf bloße Ausbildung
reduziert, wenn man darauf verzichtet, eine allgemeine und breite Grundlage des
Wissens, persönlicher Fähigkeiten und kreativer Entdeckerfreude zu ermöglichen,
dann produziert man heute nur die arbeitslosen Spezialisten von
morgen. Allgemein ruft man nach »Innovationen«, nach »Kreativität«. Aber die da
rufen, wissen offenkundig nicht, wie Kreativität entsteht. Jedenfalls entsteht
Kreativität sicherlich nicht durch ein vom ersten Semester an eingezwängtes,
verschultes Wissen. Das war, nebenbei bemerkt, das eigentliche
Anliegen Humboldts - durch Bildung eine »Mannigfaltigkeit der Situationen« zu
ermöglichen, ein Ziel, von dem John Stuart Mill im vorigen Jahrhundert sagte:
»Wenige Menschen außerhalb Deutschlands verstehen die Bedeutung der Lehre ...
Wilhelm von Humboldts«.(3)
Inzwischen wohl auch innerhalb Deutschlands.
Es ist erst wieder zu lernen, daß eine bloße Ausbildung,
das kurzfristige Programmieren von Köpfen mit Wissen, das in einigen Jahren
veraltet sein wird, daß also die Reduzierung von Studenten auf Datenträger
langfristig der Wirtschaft mehr schadet, als kurzfristige Kosteneinsparungen
nützen.
Wenn man Bildung als bloßes Wirtschaftsgut
betrachtet, denkt man zu kurz. Nur eine breite Bildung, die Studenten
Irrtumsmöglichkeit, spielerischen Umgang mit neuen Themen, Raum für Neugierde
bietet, wird auch langfristig ein Potential an kreativem Wissen bereitstellen,
ohne das die wirtschaftliche Entwicklung erlahmt - nein, bei uns bereits
erlahmt ist. Denn die alte Struktur der Hochschulen (auch wenn die FH´s hier etwas
besser wegkommen) ist ein Kreativitätshemmnis.
5. Dezember 1997/11. Dezember 1997
Anmerkungen
1. Vgl. K.-H. Brodbeck, Gewohnheitsbildung und kreative Destruktion
(1997)
2. Vgl. K.-H.
Brodbeck, Kreativität als persönlichen Erfolgsfaktor
(1997).
3. Vgl. K.-H.
Brodbeck, Die fragwürdigen
Grundlagen der Ökonomie. Eine philosophische Kritik der modernen
Wirtschaftswissenschaften, Darmstadt 1998, S. 258. Weitere Hinweise zum Thema:
»Kreativität« und »Wirtschaft« auch auf
meiner Homepage.
© 1996-2000 Karl-Heinz Brodbeck
29. August 2000