Diskussionspapier, später erscheinen als: Wirtschaftsgut oder kreatives Potential? Vom Preis der Bildung, Ethic Letter (LayReport) 3/1998, S. 1-4

Bildung - Wirtschaftsgut oder kreatives Potential?

Karl-Heinz Brodbeck



Bildung - ein »freies Gut«?

Der Kern der meisten Probleme liegt in jenen Fragen, die man nicht stellt. Die bildungspolitische Diskussion dreht sich scheinbar nur noch um das Problem: Wie soll das Gut Bildung produziert werden? Wenn man diese Frage so stellt, dann ist die Antwort fast schon selbstverständlich: Bildung muß einen Preis erhalten. Nur ein Preis für das Gut Bildung kann dafür sorgen, daß durch den Marktmechanismus Produktion und Allokation dieses Gutes sinnvoll geregelt werden. Bietet man Bildung »zum Nulltarif« an, dann wird das Gut Bildung »mißbraucht«, und es entstehen für die Gesellschaft, den Staat untragbare Kosten - zumal in Zeiten »knapper Kassen«. Ferner: Warum soll, so war von prominenter Seite in einer TV-Diskussion zu hören, »Lieschen Müller an der ALDI-Kasse durch ihre Steuern für die Bildung der Damen und Herren Studenten aufkommen?« Nun, darauf gibt es zunächst eine einfache Antwort: »Damit die Kinder von Lieschen Müller auch studieren können.« Wieviel Steuern Lieschen Müller bezahlt, und wieviel andere nicht bezahlen, das ist keine Frage der Bildungspolitik, es ist eine Frage der Steuergerechtigkeit. Hier gehen also viele Fragen durcheinander; eine Klärung und Strukturierung ist angebracht.

Wenn man Bildung als Wirtschaftsgut betrachtet, dann ist eine »Marktlösung« ebenso naheliegend wie scheinbar zwingend. Die Frage lautet aber: Kann man Bildung drauf reduzieren, bloß kurzfristige Vorleistung für die Wirtschaft zu sein? Ist Bildung ein bloßes Mittel zu einem fremden Zweck? Ist Bildung bloße Ausbildung? Bildung ist ein persönlicher Wert für jeden Menschen, ist ein Freiheitsrecht, besitzt keineswegs nur einen ökonomischen Funktionswert. Die Kernfrage der Bildungspolitik lautet damit: Wieviel von welcher Bildung wollen wir?

Wieviel Bildung wollen wir?

Wenn man die Frage so stellt und die Antwort dem Markt überläßt, dann zeigt sich ein ganz anderes Bild: Studiengebühren sollen das Gut Bildung »verknappen«. Teure Güter werden weniger nachgefragt. Wer also Studiengebühren fordert, der fordert damit eigentlich, einige oder viele an der Möglichkeit zu einer umfassenden Bildung auszuschließen. Wenn man von der Menge an Bildung spricht, so gibt es gewiß »Kapazitätsgrenzen«. Ein Land, in dem nur studiert wird, kann nicht existieren. Es muß hier also eine Entscheidung getroffen werden, wieviel Bildung wir wollen.

Hinter der Diskussion um Studiengebühren verbirgt sich also zunächst die Frage: Wieviel Bildung wollen wir? Meist wird vor dieser Frage sofort das »Wie?« diskutiert. Wenn man für Studiengebühren plädiert, dann kann man dieses Instrument »Studiengebühren« auch so gestalten, daß der prinzipielle Zugang zu allen Bildungseinrichtungen gewahrt bleibt - man kann hier allerlei Modelle kopieren: Australien, USA, etc., gewiß. Doch die Antwort auf die Frage »Wie?« ist erst der zweite Schritt. Man kann auch den Hochschulzugang und das Studium an Leistung knüpfen (numerus clausus, Eingangsprüfungen usw.) und so das Gut Bildung auf das gewünschte Maß begrenzen. Doch all diese Instrumente setzen die Antwort auf die Grundfrage voraus: Wieviel Bildung wollen wir? Dann kann man nach dem Instrument fragen, mit dem ein Bildung nach dem gesellschaftlich gewünschten Maß erreicht wird.

Welche Art Bildung wollen wir? Oder: Bildung versus Aus-Bildung

Allerdings sind die Instrumente zur Begrenzung des Gutes Bildung auf das gesellschaftlich gewünschte und mögliche Maß keineswegs gleichwertig. Wenn man fragt, wieviel Bildung wollen wir, dann müssen wir auch fragen: Welche Art Bildung wollen wir? Überläßt man die Antwort auf diese Frage dem Markt und dem Wettbewerb, so ergibt sich eine betrübliche Beobachtung: Richten sich Bildungsinhalte nach dem Preis, so werden entweder Fächer belegt und studiert, die wirtschaftlich nutzbar sind (die sich gut verkaufen); Bildung wird dann zur bloßen Ausbildung. Dagegen Bildung als Wert für die Menschen, als kulturelle Errungenschaft, als Ausdruck menschlicher Freiheit und kreatives Potential - diese Bildung wird dann nur noch in geringem Umfang oder von jenen erworben, die es sich leisten können. Wer sein Studium nicht darauf ausrichten muß, später mit der erworbenen Qualifikation Geld zu verdienen - weil er schon über genügend Geld verfügt -, der kann sich »Bildung« noch leisten. Die Mehrheit der Studierenden wird nur mehr ausgebildet.

Naive Bilder der Marktwirtschaft

Nun scheint dies eine rein ethische oder politische Frage zu sein, nicht eine, die das Funktionieren der Wirtschaft betrifft. Die Wirtschaft braucht gut und billig ausgebildete Studienabgänger mit den gewünschten Qualifikationen. »Bildung« ist - so scheint es - nur dann von Interesse, wenn sie auf dem Markt als Nachfrage auftritt (z. B. beim Kauf von Büchern oder CDs). Doch in dieser Auffassung verbirgt sich ein großer Irrtum. Es ist ein Irrtum über das Funktionieren einer Marktwirtschaft. Und dieser Irrtum wird nicht dadurch besser, daß viele ihn teilen und er ein ehrwürdiges Alter besitzt.

Marktwirtschaftliche Entwicklung ist nämlich etwas ganz anderes, als in den Lehrbüchern der traditionellen Ökonomen steht. Da ist zu lesen, es gehe in der Wirtschaft um die »Allokation knapper Güter«; Haushalte kaufen gemäß ihrer Präferenzen, Unternehmen produzieren nach Maßgabe gegebener Produktionsfunktionen, und alles führe, so die herkömmliche Lehre, zu einem harmonischen Preisgleichgewicht bei vollkommener Konkurrenz. Ein niedliches Bild. Nur hat dieses Bild mit der wirtschaftlichen Realität nichts gemein. In einer Marktwirtschaft werden unaufhörlich neue Güter angeboten, die Präferenzen der Konsumenten werden in vielfältigen Formen des Marketing überhaupt erst gebildet, Produktionstechniken ändern sich in immer kürzeren Zeiträumen, und die Märkte zeigen alles, nur kein »Gleichgewicht«, schon gar keine »vollkommene Konkurrenz«. In der wirklichen Wirtschaft - nicht in den Lehrbüchern, die von knappen Gütern niedliche Geschichten erzählen - gilt das von Schumpeter geprägte Schlagwort von der »schöpferischen Zerstörung«.(1) Unaufhörlich treten Neuerungen auf und verdrängen alte Produkte, Gewohnheiten, Techniken.

Kreativität als Bildungsziel

Was folgt, wenn man seine Nase aus traditionellen Lehrbücher herausnimmt und einen Blick auf die wirtschaftliche Wirklichkeit wirft, was folgt daraus für die Bildungspolitik? Die erste Folgerung ist die: Der wichtigste Wirtschaftsfaktor ist die Kreativität. Eine bloße Ausbildung produziert vieles, aber keine kreativen Menschen. Man kann die Inhalte und den Umfang der »produzierten Bildung« sicherlich genau an die Erfordernisse der momentanen Nachfrage aus der Wirtschaft anpassen (und viele der Studierenden orientieren sich daran). Doch in fünf oder zehn Jahren werden diese ausgebildeten Inhalte zu einem großen Teil wertlos sein. Der Markt »denkt« nur kurzfristig, einfach deshalb, weil ein Markt überhaupt nicht »denkt«. Er ist ein Instrument der Selektion. Dafür taugen Märkte, und darin liegt ihre Stärke. Märkte errichten einen sehr strengen Maßstab - den wirtschaftlichen Erfolg in barer Münze -, sie selektieren Leistungen nach Kosten und Ertrag. Neuerungen werden nicht vom Wettbewerb produziert, der Wettbewerb wählt nur aus. Kreativität muß auch und gerade im gegenwärtigen wirtschaftlichen Umfeld vermehrt zum persönlichen Erfolgsfaktor (2) werden. Nur wenn die Bildungspolitik sich auf die Person, nicht die kurzfristige Funktion in der Wirtschaft konzentriert, wird langfristig ein kreatives Potential erhalten bleiben.

Wenn man also die Bildungspolitik auf bloße Ausbildung reduziert, wenn man darauf verzichtet, eine allgemeine und breite Grundlage des Wissens, persönlicher Fähigkeiten und kreativer Entdeckerfreude zu ermöglichen, dann produziert man heute nur die arbeitslosen Spezialisten von morgen. Allgemein ruft man nach »Innovationen«, nach »Kreativität«. Aber die da rufen, wissen offenkundig nicht, wie Kreativität entsteht. Jedenfalls entsteht Kreativität sicherlich nicht durch ein vom ersten Semester an eingezwängtes, verschultes Wissen. Das war, nebenbei bemerkt, das eigentliche Anliegen Humboldts - durch Bildung eine »Mannigfaltigkeit der Situationen« zu ermöglichen, ein Ziel, von dem John Stuart Mill im vorigen Jahrhundert sagte: »Wenige Menschen außerhalb Deutschlands verstehen die Bedeutung der Lehre ... Wilhelm von Humboldts«.(3) Inzwischen wohl auch innerhalb Deutschlands.

Es ist erst wieder zu lernen, daß eine bloße Ausbildung, das kurzfristige Programmieren von Köpfen mit Wissen, das in einigen Jahren veraltet sein wird, daß also die Reduzierung von Studenten auf Datenträger langfristig der Wirtschaft mehr schadet, als kurzfristige Kosteneinsparungen nützen.

Wenn man Bildung als bloßes Wirtschaftsgut betrachtet, denkt man zu kurz. Nur eine breite Bildung, die Studenten Irrtumsmöglichkeit, spielerischen Umgang mit neuen Themen, Raum für Neugierde bietet, wird auch langfristig ein Potential an kreativem Wissen bereitstellen, ohne das die wirtschaftliche Entwicklung erlahmt - nein, bei uns bereits erlahmt ist. Denn die alte Struktur der Hochschulen (auch wenn die FH´s hier etwas besser wegkommen) ist ein Kreativitätshemmnis.

5. Dezember 1997/11. Dezember 1997


Anmerkungen

1. Vgl. K.-H. Brodbeck, Gewohnheitsbildung und kreative Destruktion (1997)

2. Vgl. K.-H. Brodbeck, Kreativität als persönlichen Erfolgsfaktor (1997).

3. Vgl. K.-H. Brodbeck, Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie. Eine philosophische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften, Darmstadt 1998, S. 258. Weitere Hinweise zum Thema: »Kreativität« und »Wirtschaft« auch auf meiner Homepage.




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29. August 2000