aus:
Ethik-Letter LayReport 2/1999, S. 5-9
Neoliberalismus
Der Begriff Neoliberalismus wurde
ursprünglich von einer Gruppe von Ökonomen auf einer Konferenz in Paris im Jahre
1938 geprägt (W. Röpke, W. Eucken, F. A. von Hayek u.a.). Als
wirtschaftspolitische Konzeption, die den staatlichen Rahmen des
Wettbewerbs betont (»Ordo-Liberalismus«), zählt der Neoliberalismus in dieser
ursprünglichen Form auch zu den Grundkonzepten der sozialen Marktwirtschaft. F.
A. von Hayek hat nach dem zweiten Weltkrieg den Neoliberalismus zu einer
dynamischen Theorie sozialer Institutionen weiterentwickelt. Der Kerngedanke
hierbei ist, dass sich auch die Wirtschaftsordnung, wie der Markt,
»spontan« entwickelt. Hayeks Theorie gilt heute als theoretischer Kern des
Neoliberalismus.
Der Neoliberalismus hält an der These des klassischen
ökonomischen Liberalismus fest, dass das Marktsystem aus sich selbst ein
stabiles System erschaffe (invisible hand). Neben den
Selektionsprozess des Marktes setzt Hayek jedoch einen Evolutionsprozess der
Regeln des Handelns, in dem die Wirtschaftsordnung als Ergebnis blinder, nicht
geplanter Prozesse der Regelselektion verstanden wird (»Ordnung als Resultat
menschlichen Handelns, nicht menschlichen Planens«). Konstruktive Eingriffe in
die Wirtschaft durch menschliche Planungen lehnt Hayek als »Anmaßung von
Wissen« grundsätzlich ab. Prototyp des »konstruktivistischen«
Gesellschaftsmodells ist für Hayek der Sozialismus in all seinen Spielarten.
Der Neoliberalismus gewann - neben Hayeks
Schriften - vor allem durch die Arbeiten der Chicago-Schule in der Ökonomie an
Gewicht - eine große Zahl der Wirtschafts-Nobelpreise seit 1974 ging an
Vertreter dieser Schule. Die Chicago-Schule betont die grundsätzliche
Überlegenheit des Marktes über alle staatlichen Eingriffe und vertritt in der
Geldpolitik eine strikte Bindung an Regeln (»Monetarismus«). Die These des
Keynesianismus, dass der Markt zu Unterbeschäftigung und Depression tendiere,
wird verneint. Dieser wissenschaftliche Einfluss - begünstigt durch eine
gewisse Ratlosigkeit der keynesianischen Ökonomen nach dem Ölpreis-Schock von
1973 und der nachfolgenden »Stagflation« (steigende Preise und
steigende Arbeitslosenzahlen) - gewann politisches Gewicht durch die
Administration von Ronald Reagen und Margaret Thatcher, die sich beide
ausdrücklich auf Hayek und die Chicago-Ökonomen beriefen. In jüngerer Zeit
haben Chicago-Ökonomen u.a. Russland in seiner Wirtschaftspolitik beraten.
Der Neoliberalismus erklärt alle
Wirtschaftskrisen als schlichtes Resultat staatlicher Eingriffe, als Ergebnis
des Versuchs, die »gute« Naturordnung des Marktes durch die »böse«
Regulierungswut der Politiker zu stören. Deshalb wird konsequente Deregulierung
gefordert, um den Marktprozess von hemmenden Einflüssen des Staates zu
befreien. Die Begründung ist einfach: Es ist unmöglich, alle dezentralen
Informationen in einer Zentrale zu sammeln - keine Bürokratie ist klüger als
die vielen dezentralen Entscheidungsträger. Nur die Marktpreise seien »wahre«
Knappheitsindikatoren, einzige Träger von Informationen über wirtschaftliche
Tatbestände.
Seit dem Zusammenbruch der russischen
Wirtschaft, der Asienkrise und der drohenden Rezession auch in den USA und in
Europa zeigen sich die fatalen Folgen neoliberaler Politik. Es handelt sich
hierbei nicht zuletzt um praktische Konsequenzen aus grundlegenden
Schwächen der neoliberalen Theorie.
Erstens verkennt der Neoliberalismus, dass Märkte bei Gütern
versagen, die nicht privatisierbar sind (Klima, Boden, Meere, etc.). Der
exzessive Verbrauch von erschöpfbaren Ressourcen durch die gegenwärtige
Generation kann nicht durch den Wettbewerb begrenzt werden - wie der
Neoliberalismus hofft. Der Grund ist einfach: Die künftigen Generationen leben
noch gar nicht und können deshalb auch nicht qua Wettbewerb ihre Präferenzen
auf dem Markt geltend machen (der Staat muss also hier eine Stellvertreterrolle
übernehmen). Zweitens misstraut Hayek - wohl durchaus zurecht - grundsätzlich staatlicher Macht und befürchtet
deren Missbrauch; er ist aber blind gegenüber dem Machtmissbrauch durch Private,
z.B. durch weltweit agierende Konzerne, deren Jahresumsatz längst das
Sozialprodukt mittelgroßer Länder überrundet hat. Der Markt kann eben nicht nur
vom Staat, er kann auch von Privaten manipuliert werden - und die wichtigste
Manipulation ist die Spekulation mit Waren, Währungen und
Wertpapieren. Spekulative Prozesse führen aber - das ist ein dritter Einwand
- zu einer systematischen Verzerrung der Marktpreise und des Geldwertes. Die
neoliberale These, Marktpreise seien der einzig wahre Ausdruck ökonomischer
Knappheit, ist angesichts einer dramatischen weltweiten Verzerrung der
Marktpreise durch Spekulationsprozesse unhaltbar geworden. Viertens
verkennt der Neoliberalismus, dass der Markt auch ausgrenzt. Was vom
Markt verstoßen wird (in Konkursen, bei Arbeitslosigkeit) oder den Marktzutritt
durch eine verkäufliche Ware (z.B. ungelernte Arbeit) gar nicht erst schafft,
erscheint auch nicht in der Denkwelt des Neoliberalismus, da er doch nur die
Informationen als »wahr« und »gültig« betrachtet, die im Marktprozess
verarbeitet werden. Es wird verkannt, dass der Markt nur ein kleines
kognitives Fenster der Welt öffnet, und aus diesem Fenster ist die Sicht systematisch
verstellt. Hungerkatastrophen erscheinen z.B. nicht als einfaches Resultat des
Weltmarkts und der Einkommensverteilung (wie der Träger des
Wirtschaftsnobelpreises 1998 - Amartya Sen - gezeigt hat), sondern als fremdes,
exogenes »Ereignis«. In der Parteinahme für den Markt, damit auch für dessen ausgrenzende
Funktion und kognitive Beschränktheit, spricht der Neoliberalismus - fünftens
- implizit ein ethisches Urteil über all jene Länder oder
Personengruppen aus, die gar nicht oder nur als Zahl in Armuts- oder
Kriminalstatistiken in Erscheinung treten (z.B. beim Versuch, durch
Rauschgifthandel, Diebstahl, Erpressung oder Prostitution eine Eintrittskarte
für den Weltmarkt zu erhalten). Sechstens ist die neoliberale These,
Wirtschaftsprozesse seien nicht planbar, angesichts einer weltweit
geplanten Produktion und Logistik großer Konzerne und ihrer Zulieferer
bestenfalls als naiv zu bezeichnen. (Die Forderung einiger Vertreter
des Neoliberalismus - z.B. W. Röpke -, große Konzerne zugunsten kleiner Betriebe
zu zerschlagen, ist in der Dominanz der Chicago-Ökonomen längst vergessen.) Siebtens
schließlich verkennen die Anhänger der De-Regulierung, dass auch
eine Abschaffung von Regeln einen Eingriff in das wirtschaftliche
System darstellt. Sie maßen sich also ein Wissen an, das sie anderen
ökonomischen Schulen absprechen: Das Wissen darum, welche Regelungen
und wie viel Regelung für die Wirtschaft »gut« ist. Zudem waren viele
Regeln die Antwort auf destruktive Marktprozesse - z.B. das
Weltwährungssystem nach dem 2. Weltkrieg oder die Einführung der
Sozialversicherung. Wenn Regeln, wie Hayek sagt, tatsächlich blind und
evolutionär entstehen, so ist es eine »Anmaßung von Wissen«, konstruktivistisch
und von außen solche Regeln abschaffen zu wollen. Deregulierung ist eben nur
eine andere Regulierung (auch im Interesse anderer), folglich
das exakte Gegenteil einer »spontanen Ordnung«. Dieser zentrale
Widerspruch in der Theorie Hayeks hat fatale praktische
Konsequenzen.
Und da die Befolgung neoliberaler Konzepte
globale Fakten geschaffen hat und weiterhin schafft, können die
Anhänger dieser wirtschaftspolitischen Konzeption nicht von der ethischen
Verantwortung für das entbunden werden, was sich gegenwärtig als
planetarische Wirtschaftskrise abzeichnet - ebenso wenig, wie die Gründerväter
der Sowjetunion für ihre Opfer. Global hat der Neoliberalismus als
wirtschaftspolitische Praxis viele nationale Volkswirtschaften destabilisiert,
die ungleiche Einkommensverteilung weltweit drastisch verschärft, Hunger und
Unterernährung multipliziert und das ökologische Desaster beschleunigt. Sogar
in den USA sind die Reallöhne - entgegen der ausdrücklichen Prognose Hayeks -
langfristig gesunken. So verwundert es nicht, wenn einer der führenden
Chicago-Ökonomen - Gary S. Becker - heute feststellt: »Die Liebe zur
Marktwirtschaft ist abgekühlt«. Jene 1,3 Milliarden Menschen, die täglich
weniger als einen Dollar zum Leben haben, werden in dieser Liebe ohnehin stets
große Zurückhaltung geübt haben.
(korrigierte Version 12.Oktober 2004 und 30.
September 2005)
Für eine ausführliche
Darstellung und Kritik des Neoliberalismus, wie ihn Hayek formuliert hat, siehe
meinen Aufsatz aus der Zeitschrift
für Politik 2001.